Seenotrettung: Ermittlungen gegen Ärzte ohne Grenzen eingestellt

Staatsanwaltschaft in Italien lässt Anklagen fallen

Rom, 19. April 2024. Die Staatsanwaltschaft in Trapani in Sizilien hat heute das Verfahren gegen Organisationen eingestellt, die Menschen in Seenot retten. Vorangegangen waren sieben Jahre falscher Anschuldigungen, diffamierender Behauptungen und einer Kriminalisierungskampagne gegen die Organisationen. 

Im vorliegenden Fall wurde gegen Ärzte ohne Grenzen und andere Organisationen, die Such- und Rettungsaktionen auf See durchführen, unter dem unbegründeten Vorwurf der Beihilfe zur «illegalen Einwanderung» ermittelt. Die umfangreiche Anklageschrift stützte sich unter anderem auf Abhörmassnahmen, falsche Aussagen und eine bewusst verzerrte Interpretation von Rettungsmechanismen, um sie als kriminelle Handlungen darzustellen. 

Nach einer zweijährigen vorläufigen Anhörung räumte die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen eingeleitet hatte, jedoch ein, die Beweise zeigten, dass die Nichtregierungsorganisationen in der alleinigen Absicht arbeiteten, Menschenleben zu retten. Sie beantragte, den Fall nicht zur Verhandlung zu bringen. Der Richter hat den Fall nun endgültig eingestellt, da die Anschuldigungen haltlos seien und der Verdacht der Zusammenarbeit mit Schmugglern ausgeräumt sei.

«Mit diesen unbegründeten Anschuldigungen wird seit Jahren versucht, die Arbeit der humanitären Such- und Rettungsteams zu verunglimpfen. Sie zielten darauf ab, die Schiffe aus dem Meer zu verbannen und ihre Bemühungen zu konterkarieren, Leben zu retten. Jetzt sind diese Anschuldigungen in sich zusammengefallen», sagte Christos Christou, der internationale Präsident von Ärzte ohne Grenzen. «Unsere Gedanken sind bei unseren Kolleg:innen von Ärzte ohne Grenzen und anderen Organisationen, die unter der Last der Anschuldigungen leben mussten, weil sie ihre Arbeit rechtmässig tun, also Menschen in Seenot zu retten, in voller Transparenz und unter Einhaltung der Gesetze», so Christou.

Während der siebenjährigen Wartezeit auf die Entscheidung wurden die Angriffe auf die Seenotrettung durch eine Reihe von Massnahmen fortgesetzt. Dazu gehören restriktive Gesetze, das Festsetzen von zivilen Rettungsschiffen und die Unterstützung der libyschen Küstenwache, die Rettungen behindert, und das Leid sowie die Menschenrechtsverletzungen der gewaltsam nach Libyen zurückgeführten Menschen verschlimmert. Unterdessen ist die Zahl der Todesfälle im Mittelmeer weiter gestiegen: 2023 war das Jahr mit der höchsten Zahl an Todesfällen seit den ersten Anschuldigungen gegen Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen im Jahr 2017.

Nach Angaben der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte haben die EU-Staaten mindestens 63 Gerichts- oder Verwaltungsverfahren gegen Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Seenotrettung eingeleitet (Stand Juni 2023). Im vergangenen Jahr haben die italienischen Behörden 21-mal humanitäre Rettungsschiffe festgesetzt. Das sind insgesamt 460 Tage, an denen die Schiffe daran gehindert wurden, Menschen in Seenot zu helfen. Das Such- und Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, die Geo Barents, hat gerade erst seine Arbeit wieder aufgenommen, nachdem es zwanzig Tage lang zu Unrecht festgehalten worden war. Zuvor stand die Geo Barents unter dem falschen Vorwurf der Gefährdung von Menschenleben, nachdem ein libysches Patrouillenboot eine laufende Rettungsaktion gewaltsam unterbrochen hatte.

Ausserdem werden immer wieder humanitäre Schiffe in weit entfernte Häfen in Norditalien geschickt, um Überlebende dort an Land zu bringen. Dadurch werden sie von der Such- und Rettungszone ferngehalten, während dort das Leben von Menschen in Gefahr ist.

Durch die zynische Auslagerungspolitik in unsichere Drittländer wie Libyen kehren Italien und die europäischen Mitgliedsstaaten den Menschen, die in Europa Sicherheit suchen, den Rücken zu. Sie tragen hierdurch dazu bei, menschliches Leid zu verstärken und zeigen eine völlige Missachtung des Schutzes von Menschenleben.

«In den vergangenen Jahren haben die italienischen Behörden enorme Anstrengungen in die Errichtung von Hindernissen für humanitäre Maßnahmen gesteckt. Darüber hinaus haben sie nichts unternommen, um Schiffbrüche zu verhindern und legale und sichere Routen für Menschen zu schaffen, die über das Mittelmeer fliehen», sagt Tommaso Fabbri, ehemaliger Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen. «Leben zu retten ist kein Verbrechen, es ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung. Es ist ein grundlegender Akt der Menschlichkeit, der einfach getan werden muss. Es muss Schluss sein mit der Kriminalisierung der Solidarität. Alle Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, das Sterben und Leiden zu verhindern und das Recht auf Rettung zu garantieren.»

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben im Jahr 2015 mit Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer begonnen. Ziel war und ist es, die Lücke zu schliessen, die durch das Ende der Rettungsoperation «Mare Nostrum» entstand. Seither war die Organisation mit insgesamt acht verschiedenen Schiffen im Einsatz und hat damit dazu beigetragen, mehr als 92'000 Menschenleben zu retten. Trotz aller Widrigkeiten hat Ärzte ohne Grenzen seine Such- und Rettungsaktionen nicht eingestellt. Bis heute führen die Teams an Bord des aktuellen Schiffes, der Geo Barents, Rettungsaktionen im Mittelmeer durch.

«Unsere Mitarbeitenden an Bord unserer Schiffe haben, wie an vielen anderen Orten der Welt, nie aufgehört, Leben zu retten. Dies war die beste Antwort, die wir den Anschuldigungen entgegensetzen konnten», sagt Christou. 

Yvonne Eckert Medienverantwortliche, Médecins Sans Frontières (MSF)

 

Lukas Nef Head of Public Engagement, Médecins Sans Frontières (MSF)

 

Über Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)

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