Äthiopien: Medizinische Einrichtungen in Tigray als Zielscheibe

Äthiopien: Medizinische Einrichtungen in Tigray als Zielscheibe

Addis Abeba/Genf, 15. März 2021 – Medizinische Einrichtungen in der äthiopischen Region Tigray wurden im Rahmen eines gezielten und umfangreichen Angriffs auf die Gesundheitsversorgung geplündert und zerstört, berichten Teams von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF). Von 106 Gesundheitseinrichtungen, die von MSF-Teams zwischen Mitte Dezember und Anfang März besucht wurden, waren fast 70 Prozent geplündert und mehr als 30 Prozent beschädigt worden; nur 13 Prozent funktionierten normal.

In einigen medizinischen Einrichtungen in Tigray wird nach Angaben der MSF-Teams weiterhin geplündert. Während einige Plünderungen möglicherweise zufällig erfolgten, scheinen die Gesundheitseinrichtungen in den meisten Gebieten absichtlich zerstört worden zu sein, um sie funktionsunfähig zu machen. In vielen Gesundheitszentren, wie zum Beispiel in Debre Abay und May Kuhli im Nordwesten, fanden die Teams zerstörte Geräte, eingeschlagene Türen und Fenster sowie auf dem Boden verstreute Medikamente und Patientenakten.

Im Adwa-Krankenhaus in Zentral-Tigray wurden medizinische Geräte, darunter Ultraschallgeräte und Monitore, mutwillig zertrümmert. In der gleichen Region wurde die Gesundheitseinrichtung in Semema Berichten zufolge zweimal von Soldaten geplündert, bevor sie in Brand gesetzt wurde, während das Gesundheitszentrum in Sebeya von Raketen getroffen wurde, die den Kreisssaal zerstörten.

Spitäler von Soldaten besetzt

Jede fünfte von den MSF-Teams besuchte Gesundheitseinrichtung war von Soldaten besetzt. In einigen Fällen war dies nur vorübergehend, in anderen dauert die bewaffnete Besetzung noch an. In Mugulat im Osten von Tigray nutzen eritreische Soldaten die Gesundheitseinrichtung weiterhin als Stützpunkt. Das Krankenhaus in Abiy Addi in Zentral-Tigray, das eine halbe Million Einwohner versorgt, war bis Anfang März von äthiopischen Truppen besetzt.

„Die Armee nutzte das Abiy Addi Spital als Militärbasis und zur Stabilisierung ihrer verletzten Soldaten", erklärt Kate Nolan, Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen. „Während dieser Zeit war es für die allgemeine Bevölkerung nicht zugänglich. Sie mussten in das Gesundheitszentrum der Stadt gehen, das nicht für eine stationäre medizinische Versorgung ausgestattet war. Dort können zum Beispiel keine Bluttransfusionen durchgeführt oder Schusswunden behandelt werden." 

Nur wenige Gesundheitseinrichtungen in Tigray verfügen noch über Krankenwagen, da die meisten von bewaffneten Gruppen entwendet wurden. Im der Stadt Adigrat und Umgebung im Osten von Tigray wurden etwa 20 Krankenwagen vom Spital und mehreren Gesundheitsstationen mitgenommen. MSF-Teams haben einige dieser Krankenwagen später gesehen, als sie von Soldaten nahe der Grenze zu Eritrea verwendet wurden, um verschiedene Güter zu transportieren. Als Folge gibt es in Tigray praktisch kein Krankentransportsystem mehr. Patient*innen müssen lange Distanzen auf eigene Faust zurücklegen, um behandelt werden zu können. Manche gehen tagelang zu Fuss.

Zudem gibt es in vielen Gesundheitseinrichtungen nur noch wenig oder gar kein medizinisches Personal mehr. Einige der Beschäftigten sind geflohen, andere kommen nicht mehr zur Arbeit, weil sie seit Monaten nicht mehr bezahlt wurden.

„Die Angriffe auf die Gesundheitseinrichtungen in Tigray haben verheerende Auswirkungen auf die Menschen“, sagt Oliver Behn, Leiter der Projektabteilung von MSF in Amsterdam. „Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal müssen in einem Konflikt laut internationalem Völkerrecht geschützt werden. Das geschieht in Tigray eindeutig nicht.“

Vor Beginn des Konflikts im November 2020 hatte Tigray eines der besten Gesundheitssysteme Äthiopiens mit zahlreichen Gesundheitsstationen in den Dörfern, Gesundheitszentren und Spitälern in den Städten und einem funktionierenden Krankentransportsystem. Dieses Gesundheitssystem ist fast komplett zusammengebrochen.

Mitarbeitenden von MSF, die in den ländlichen Gebieten von Tigray mobile Kliniken betreiben, wurde von Frauen berichtet, die bei der Geburt gestorben sind, weil sie aufgrund fehlender Krankenwagen, der grassierenden Unsicherheit auf den Strassen und einer nächtlichen Ausgangssperre kein Spital aufsuchen konnten. Inzwischen bringen viele Frauen ihre Kinder unter unhygienischen Bedingungen in informellen Vertriebenenlagern zur Welt.

In den vergangenen vier Monaten wurden nur wenige Schwangere vor oder nach der Geburt versorgt. Ihre Kinder wurden darüber hinaus nicht geimpft, was das Risiko künftiger Ausbrüche von Infektionskrankheiten erhöht. Patient*innen mit chronischen Krankheiten können aufgrund der Situation zudem keine lebensrettenden Medikamente erhalten und Überlebende von sexueller Gewalt erhalten oft keine medizinische und psychologische Betreuung.

"Das Gesundheitssystem muss so schnell wie möglich wiederhergestellt werden", sagt Behn. "Die medizinischen Einrichtungen müssen dringend benötigte Ausrüstung und Krankenwagen erhalten. Ausserdem muss sichergestellt werden, dass das Personal bezahlt wird und die Möglichkeit hat, in einer sicheren Umgebung zu arbeiten. Am wichtigsten ist, dass alle bewaffneten Gruppen in diesem Konflikt die Gesundheitseinrichtungen und das medizinische Personal respektieren und schützen müssen."

Die Teams von MSF setzen eine Reihe von Gesundheitseinrichtungen in der Region wieder instand, versorgen sie mit Medikamenten und anderen medizinischen Hilfsgütern und leisten medizinische Unterstützung in Notaufnahmen, Entbindungsstationen und Ambulanzen. Sie betreiben auch mobile Kliniken in ländlichen Städten und Dörfern, in denen das Gesundheitssystem nicht funktioniert, sowie an Orten, an denen sich viele Vertriebene befinden. Es gibt jedoch immer noch ländliche Gebiete in Tigray, die weder MSF noch andere Organisationen erreichen konnten.

Kontakt
Melina Stavrinos Team Media/Events, Médecins Sans Frontières
Etienne Lhermitte Media Officer, Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)
Melina Stavrinos Team Media/Events, Médecins Sans Frontières
Etienne Lhermitte Media Officer, Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)
Über Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)

MSF ist eine unabhängige medizinische Hilfsorganisation. MSF hilft Menschen in Not, Opfern von Naturkatastrophen sowie von bewaffneten Konflikten - ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, religiösen oder politischen Überzeugung oder ihres Geschlechts.


1999 erhielt MSF den Friedensnobelpreis.

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