Äthiopien: MSF veröffentlicht Bericht zur Tötung von drei Mitarbeitenden in Tigray
Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) hat die Ergebnisse einer internen Untersuchung zu der brutalen Tötung von drei Mitarbeitenden in Äthiopien veröffentlicht. Am 24. Juni 2021 waren María Hernández Matas, Tedros Gebremariam Gebremichael und Yohannes Halefom Reda in Zentral-Tigray getötet worden. Der Bericht bestätigt, dass es sich dabei um eine absichtliche und gezielte Tötung von drei humanitären Helfer:innen handelte, die eindeutig als solche erkennbar waren.
Die Untersuchung ergab weiterhin, dass zum Zeitpunkt des Vorfalls ein Konvoi der äthiopischen Nationalen Verteidigungskräfte (ENDF) auf derselben Strasse unterwegs war, auf der die Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen getötet wurden.
María Hernández Matas, Tedros Gebremariam Gebremichael und Yohannes Halefom Reda arbeiteten mit Ärzte ohne Grenzen, um in der vom Konflikt betroffenen Region Tigray medizinische Hilfe zu leisten. Am 24. Juni 2021 waren sie in einem deutlich gekennzeichneten Fahrzeug von Ärzte ohne Grenzen auf dem Weg zu Verwundeten in einem Dorf in der Nähe der Stadt Abi Adi im Zentrum von Tigray. Während der Fahrt wurde ihr Fahrzeug gestoppt und sie wurden getötet.
Vier Jahre später wartet Ärzte ohne Grenzen nach wie vor auf glaubwürdige Antworten auf die Frage, was mit ihren Mitarbeitenden geschehen ist – trotz unermüdlicher Bemühungen, auf die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien sowie die Tigray People’s Liberation Front zuzugehen, deren bewaffnete Kräfte in der Konfliktzone präsent waren.
«Trotz wiederholter Zusicherungen von Seiten der äthiopischen Behörden, dass eine Untersuchung stattfindet, haben weder Ärzte ohne Grenzen noch die Familien der getöteten Mitarbeitenden glaubwürdige Antworten erhalten. Wir können nur annehmen, dass es am politischen Willen mangelt, die Ergebnisse einer abgeschlossenen Untersuchung zu veröffentlichen», sagt Paula Gil, Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen Spanien. «In Ermangelung eines offiziellen Berichts haben wir eine moralische Verpflichtung gegenüber unseren Mitarbeitenden und den Familien unserer verstorbenen Kolleg:innen, unsere eigenen Erkenntnisse zu veröffentlichen – ein notwendiger Schritt, um zur Aufklärung beizutragen, damit diese brutalen Tötungen nicht ignoriert oder vertuscht werden.»
Unmittelbar nach dem Vorfall hatte Ärzte ohne Grenzen eine interne Untersuchung eingeleitet. Diese bestätigt, dass der Angriff auf das Team von Ärzte ohne Grenzen vorsätzlich und gezielt erfolgte. Die drei Mitarbeitenden wurden aus nächster Nähe mehrfach erschossen, während sie ihren Angreifer:innen gegenüberstanden. Die drei Kolleg:innen trugen weisse Westen mit dem deutlich sichtbaren Logo von Ärzte ohne Grenzen und waren in einem Fahrzeug unterwegs, das ebenfalls mit dem Logo und der Flagge der Nothilfeorganisation gekennzeichnet war. Ihre Leichen wurden bis zu 400 Meter von ihrem Fahrzeug entfernt gefunden, das ausgebrannt und mit Einschusslöchern übersät war.
«Dies war weder ein tragischer Fehler noch sind sie ins Kreuzfeuer geraten. Unsere Kolleg:innen wurden bei einem Vorfall getötet, den man nur als vorsätzlichen Angriff bezeichnen kann», so Gil. Die interne Untersuchung von Ärzte ohne Grenzen ergab ausserdem eindeutig, dass ein Konvoi der äthiopischen Nationalen Verteidigungskräfte (ENDF) auf demselben Strassenabschnitt in Richtung Süden fuhr, auf dem die drei Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen am Tag des Angriffs getötet wurden. Dies wurde durch mehrere öffentlich zugängliche Quellen gestützt, darunter Medienberichte, frei zugängliche Satellitenbilder und Aussagen mehrerer ziviler Zeug:innen.
Es muss jedoch noch geklärt werden, ob und in welcher Form die ENDF in den Angriff involviert waren. Ärzte ohne Grenzen liegen Aussagen von Zeug:innen vor, die mit dem ENDF-Konvoi unterwegs waren – darunter auch Zivilist:innen. Diese bringen Soldat:innen der ENDF direkt mit dem Angriff in Verbindung. Eine Person berichtete, einen Funkspruch mitgehört zu haben, in dem ein ENDF-Kommandant den Befehl gab, auf ein sich näherndes weisses Auto zu schiessen und sie zu beseitigen.
Seit 2021 hat Ärzte ohne Grenzen über 20 Treffen mit hochrangigen Vertreter:innen der äthiopischen Regierung gehabt und zahlreiche Anträge auf eine belastbare, transparente Untersuchung und die Weitergabe der Ergebnisse gestellt. «In den vergangenen vier Jahren haben wir alles in unserer Macht Stehende getan, um konstruktiv mit den äthiopischen Behörden zusammenzuarbeiten. Zwischen November 2021 und Oktober 2023 haben wir mehrmals die Ergebnisse unserer internen Untersuchung und unterstützendes Material an das Justizministerium übermittelt», sagt Gil.
«Die Untersuchung von Ärzte ohne Grenzen zeigt klar, dass es möglich war und weiterhin möglich ist, die Fakten zu dem Vorfall zu ermitteln. Angesichts der Informationen, die die Anwesenheit der ENDF zum Zeitpunkt des Angriffs bestätigen, ist es unverantwortlich und inakzeptabel, dass die äthiopischen Behörden keine glaubwürdige Untersuchung abgeschlossen und die Ergebnisse veröffentlicht haben», so Gil.
Ärzte ohne Grenzen veröffentlicht diese interne Untersuchung nicht nur aufgrund einer moralischen Verpflichtung. Die Organisation fordert Regierungen damit auch auf, den Schutz humanitärer Helfer:innen und medizinischer Einrichtungen zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass diejenigen, die für Angriffe auf humanitäre Helfer:innen und medizinisches Personal verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Solche Angriffe nehmen weltweit zu, während Staaten ihre Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht zunehmend ignorieren und die internationale Gemeinschaft wegschaut.
Die brutale Tötung von María Hernández Matas, Tedros Gebremariam Gebremichael und Yohannes Halefom Reda zeigt, welchen Gefahren humanitäre Helfer:innen ausgesetzt sind. Wird ein solcher Angriff nicht aufgeklärt, schafft dies einen gefährlichen Präzedenzfall in Äthiopien und verstärkt den alarmierenden Trend zur Straflosigkeit nach Angriffen auf medizinische Einrichtungen weltweit.
«María, Tedros und Yohannes haben ihr Leben verloren, während sie Menschen in Not geholfen haben. Wir denken jeden Tag an sie. Ihre Tötung darf nicht vergessen werden oder unkommentiert bleiben. Ärzte ohne Grenzen hofft, dass wir durch unsere Suche nach der Wahrheit über die Umstände ihres Todes dazu beitragen können, ein sichereres Umfeld für humanitäre Helfer:innen zu schaffen – nicht nur in Äthiopien, sondern in allen Konfliktgebieten weltweit», so Gil.
MSF-Tigray-InternalReview-Report-ENG.pdf
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Alessia Neuschwander
Lukas Nef