Der Raum im Gazastreifen wird auch für die humanitäre Arbeit immer enger
«Die Menschen im Gazastreifen erleben eines der dunkelsten Kapitel des Krieges. Mit dem Wiederaufflammen der Feindseligkeiten am 18. März haben die israelischen Streitkräfte ihre Militäroperationen im gesamten Gebiet intensiviert. Mittels Evakuierungsbefehlen wurden die Menschen massenhaft vertrieben, medizinisches und humanitäres Personal wurde angegriffen und getötet. Seit 50 Tagen wird der Gazastreifen zudem vollständig belagert. All diese Aktionen stellen einen systematischen Versuch dar, das Gesundheitssystem im Gazastreifen zu zerstören sowie jegliche wirksame humanitäre Hilfe zu zerschlagen.
Ärzte ohne Grenzen steht wie die meisten humanitären Akteure, die in diesem instabilen und unberechenbaren Umfeld tätig sind, tagtäglich vor einem operativen Dilemma: Sollen wir unsere Teams von einem Ort zum anderen verlegen, ohne von den israelischen Streitkräften eine Bestätigung zu erhalten, nachdem wir sie benachrichtigt haben? Sollen wir weiterhin in medizinischen Einrichtungen arbeiten, die ständig angegriffen werden? Wie können wir unsere Aktivitäten ausbauen, wenn keine Vorräte oder Treibstoff in den Gazastreifen gelangen und wichtige Ausrüstung und Infrastrukturen bombardiert werden?
Die Situation im Gazastreifen ist zur Hölle geworden; für Palästinenser:innen und diejenigen, die versuchen, ihnen zu helfen. Ein Ende der Gewalt ist nicht absehbar, die Lage spitzt sich weiter zu. Die israelischen Angriffe richten sich auch gegen Versorgungs- und Baufahrzeuge, darunter Bulldozer, Wassertanker und Abwassertransporter. Ohne diese lebenswichtigen Fahrzeuge ist es uns nicht möglich, den Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen zu gewährleisten. Zusätzliche Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung können so nicht eingedämmt werden.
Seit Beginn des Krieges haben die israelischen Streitkräfte mangelhafte Mechanismen zum Schutz von Zivilist:innen und humanitären Helfer:innen eingeführt. Diese waren jedoch nicht mehr als Schall und Rauch, denn nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden über 50 000 Palästinenser:innen und nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 409 Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen getötet. Heute sind selbst diese Mechanismen nicht mehr in Kraft. Durch Evakuierungsbefehle der israelischen Streitkräfte werden Palästinenser:innen gewaltsam in dicht gedrängte, behelfsmässige Zonen verlegt. Humanitäre Helfer:innen haben keine Sicherheitsgarantie.
Die israelischen Behörden nutzen humanitäre Hilfe als politisches Druckmittel und schränken gleichzeitig die Arbeit von humanitäre Akteur:innen willkürlich ein. Dies zwingt letztere dazu, Kompromisse bei ihrer Sicherheit einzugehen und ihre eigenen Grundsätze aufzugeben.»
Alessia Neuschwander