Deutsche Krankenpflegerin in Gaza: «Sehen mehr Patienten mit Verletzungen durch Schüsse, Drohnen- und Bombenangriffe»

Trotz einer stark eingeschränkten Internetverbindung ist es der aktuell im Gazastreifen arbeitenden Krankenpflegerin Katja Storck von Ärzte ohne Grenzen gelungen, zwei Audionachrichten zu verschicken, in denen sie die Situation im provisorischen Spital der Organisation in Deir al-Balah in Zentral-Gaza beschreibt. 

Storck berichtetet unter anderem davon, dass zuletzt vermehrt Patient:innen mit Schussverletzungen sowie mit Verletzungen durch Drohnenangriffe und Bombenangriffe auf Häuser behandelt werden mussten. Unter den Patient:innen befinden sich viele Kinder und Jugendliche. Sie beschreibt außerdem, wie schlecht die Ernährungslage der Menschen vor Ort ist, und spricht beispielhaft über die schweren Verletzungen mehrerer Patient:innen und gibt Einblicke in deren Leben. ​ 

Unten finden Sie die Transkripte der Audio-Dateien, die Sie hier herunterladen können. In dem Ordner finden Sie auch ein Porträtfoto von Katja Storck (Copyright: «MSF»).

 

Transkripte der Audio-Nachrichten von Katja Storck, Krankenpflegerin für Ärzte ohne Grenzen in Deir al-Balah in Zentral-Gaza, 20. Juni 2025 

2025-06-20-KatjaStorck-Bericht aus Deir al-Balah 

«Ich arbeite momentan im zentralen Gazastreifen. Der Ort heisst Deir al-Balah. Ärzte ohne Grenzen betreibt hier ein Spital, ein sogenanntes Feldspital, in dem wir Patienten nach traumatischen Verletzungen, Bombenangriffen usw. versorgen. In den letzten Tagen oder Wochen sehen wir vermehrt Patienten mit Schussverletzungen, Verletzungen von Drohnenangriffen aber auch von Bombenangriffen auf Häuser.

Die Ernährungssituation ist sehr schlecht. Unsere Patienten kommen schon mangelernährt ins Spital hinein. Wir selbst haben gerade mal so viel Lebensmittel übrig, um jedem Patienten eine Mahlzeit am Tag anbieten zu können. Das deckt aber noch lange nicht den Bedarf, den unsere Patienten eigentlich hätten. Wir können für unser Personal gar keine Lebensmittel mehr bereitstellen. Am Anfang haben wir noch eine Mahlzeit auch für unsere nationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeboten. Das können wir aufgrund der Mangellage inzwischen nicht mehr machen.

Wir sehen viele schwerverletzte Patienten, deren Wunden und Verletzungen langsamer heilen, viele mit Infektionen, was unter anderem auch daran liegt, dass die Ernährungslage so schlecht ist. Was auch daran liegt, dass es kaum noch medizinisches Material, Medikamente gibt, man auf Medikamente der zweiten oder dritten Wahl zurückgreifen muss, da das sogenannte ‚first-line treatment‘, also die beste Auswahl, das Medikament der ersten Wahl, nicht mehr verfügbar ist.

Wir müssen jeden Tag mit unseren Materialien schauen, was wir verwenden, wo wir einsparen können, weil kaum Lebensmittel, Hilfsgüter nach Gaza hineinkommen. Der Bedarf, die Menge an Patienten steigt mit jedem einzelnen Tag. Das ist dementsprechend momentan auch das, was am meisten gebraucht wird: Lebensmittel, Medikamente, Verbandsmaterialien und alles Mögliche an medizinischen Materialien, um den Bedarf zu decken, um die Qualität der medizinischen Versorgung weiter aufrecht zu erhalten.

Was am meisten benötigt wird, was wir von Ärzte ohne Grenzen fordern, ist ein Waffenstillstand, ein Waffenstillstand, der anhält. Der es erlaubt, dass mehr Material, mehr Lebensmittel, mehr von allem einfach, in den Gazastreifen hineinkommen, sodass man die Patienten, die Menschen versorgen kann.

Dass die Menschen wieder Lebensmittel haben, dass die Menschen medizinisch versorgt werden können, nicht nur jetzt, in dieser akuten Situation, sondern natürlich auch die medizinische Versorgung, die über die nächsten Monate und Jahre hier gebraucht wird, weil eben die Verletzungen so schwer sind. Viele Amputationsverletzungen, viele schwerwiegende Verbrennungsverletzungen. Das sind auch Verletzungen, die nicht mal eben in ein paar Wochen heilen, sondern da reden wir von Monaten, Jahren. Und das kann nur bewerkstelligt werden mit mehr Material, mit einer besseren Versorgungslage.»

 

2025-06-20-KatjaStorck-PatientInnen Geschichten 

«(...) In unserem Spital sind viele Kinder, viele Jugendliche. Wir haben beispielsweise eine junge 18-jährige Frau, die bei einem Bombenangriff auf ihr Haus schwer verletzt wurde, beide Beine mussten amputiert werden. Sie hatte zudem viele innere als auch äussere Verletzungen, die schwer heilen, die viele chirurgische Eingriffe benötigen und natürlich die Amputation von beiden Beinen oberhalb des Knies. Zusätzlich ein verletzter Arm. Diese Patientin ist beispielsweise auch auf einer Liste für medizinische Evakuierungen, die von der Weltgesundheitsorganisation organisiert wird. Aber auf dieser Liste zu stehen, heisst natürlich nicht, dass man auch ausreisen darf und heisst auch nicht, dass ein Spital gefunden wird, das sie akzeptiert. Sämtliche Länder in der näheren Umgebung, die normalerweise für diese Evakuierung in Frage kommen, Jordanien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, haben die Patientin aufgrund der Komplexität ihrer Verletzungen abgelehnt, sodass wir momentan darauf hoffen, dass sich ein europäisches Spital ihrer annimmt.

Darauf hofft sie selbst auch. Jeden Tag versuchen wir natürlich, zwischen Hoffnung und Motivation zu balancieren, aber natürlich auch keine falsche Hoffnung zu wecken, weil niemand von uns weiss, ob sie jemals irgendwo akzeptiert wird. Und sollte das so sein, müsste sie einen Grossteil ihrer Familie zurücklassen, würde in ein anderes Land kommen, was sie nicht kennt und dort monate- wenn nicht jahrelang medizinische Eingriffe absolvieren müssen, um in Zukunft ein halbwegs normales Leben führen zu können. Das weiss sie alles, aber sie will es trotzdem versuchen.

Sie sagt immer, vor dem Krieg hatte sie gerade ihren Highschool-Abschluss gemacht und möchte studieren, möchte Ingenieurin werden, und das will sie immer noch und sagt: 'Ich habe zwar meine Beine verloren, aber ich bin immer noch klug, ich bin immer noch dieselbe Person und ich kann immer noch erreichen, was ich erreichen möchte.' Das ist einerseits sehr tragisch und andererseits sehr motivierend für uns auch, jeden Tag unser Bestes für sie und für die anderen Patienten zu geben.

Neben ihr liegt eine 15-jährige Teenagerin, die bei einem Bombenangriff auf ihr Wohnhaus ihre Familie verloren hat, ihre Eltern verloren hat, selbst schwere Verletzungen an beiden Armen erlitten hat, so dass beide Arme kaum funktionsfähig sind. Sie ist natürlich zum einen absolut erschüttert und traumatisiert durch den Verlust ihrer Eltern, ihrer Familie, und andererseits fragt sie sich natürlich jeden Tag: 'Wie geht es mit mir weiter? Ich habe beide Eltern verloren, ich kann meine Arme kaum bewegen, ich bin 15 Jahre alt, was wird aus mir?' Und diese Fragen können wir ihr nicht beantworten. Wir sind ein Spital, wir sind eine medizinische Hilfsorganisation, wir geben unser Bestes, um ihre Wunden zu heilen. Wir bieten natürlich auch psychologische Unterstützung an, um dieses Trauma zu verarbeiten, aber wie ihr Leben aussehen wird? Das wissen wir nicht und da haben wir keinen Einfluss drauf.

Wir haben einen jungen Mann, einen Bruder tatsächlich von einem unserer Ärzte, der mit Freunden zusammengesessen hat, als ein Bombenangriff auf das Haus passiert ist. Alle seine Freunde sind gestorben, er selbst hat schwerverletzt überlebt, hat eine schwere Kopfverletzung erlitten, lag einige Wochen im Koma, ist inzwischen aus dem Koma erwacht und kann eine Körperhälfte zumindest wieder ein bisschen bewegen. Er hat auch angefangen wieder zu sprechen und das Erste, was er natürlich gefragt hat, ist: 'Was ist aus meinen Freunden geworden?'. Und wir mussten ihm, oder seine Familie musste ihm sagen, dass alle seine Freunde bei diesem Bombenangriff ums Leben gekommen sind.

Ein junger 19-jähriger Mann, der sagt, das waren seine Freunde seit dem Kindergarten, die kennt er seit immer und ewig, sie haben das letzte Jahr des Krieges zusammen verbracht, sich gegenseitig unterstützt und jetzt sind alle diese Freunde nicht mehr da. Das ist für ihn natürlich unfassbar schwer zu verarbeiten. Zum einen fragt er, warum habe ausgerechnet ich überlebt und meine Freunde nicht und zum anderen macht er sich grosse Sorgen, dass seine Familie für ihn da sein muss. Eigentlich war es der junge Mann, der sich darum gekümmert hat, wo bekommt man Essen her, wo ist die nächste Essensverteilung und jetzt fällt das alles auf seine Geschwister oder auf seine Eltern zurück und das möchte er nicht, er möchte keine Belastung sein. Er macht sich Sorgen, dass ihnen was passiert und das ist sehr schwer für ihn.

Wir haben ein junges Mädchen, sieben Jahre alt. Mit starken, schweren Verbrennungen im Gesicht und Oberkörper, nachdem ein Kochkessel explodiert ist. Das ist eine Form der Verletzung, die wir häufig sehen, gerade bei Kindern, dadurch dass die Menschen jetzt in Zelten leben, dadurch das es kaum noch ‘community kitchens’ – also kein Essen aus Gemeinschaftsküchen gibt – versuchen die Leute irgendwas zu Essen zuzubereiten. An offenem Feuer, mit den Materialien, die sie gefunden haben. Teilweise mit kleinen Gaskartuschen und das in so beengten Zeltstädten. Das ist natürlich supergefährlich und dementsprechend sehen wir sehr viele Kinder mit solchen Verbrennungsverletzungen, die gerade, auch weil diese Kinder schwer mangelernährt sind, sehr schlecht heilen und mit den Materialien, die wir haben, auch langsam heilen und eine grosse Infektionsgefahr darstellen.»

Alessia Neuschwander

Public Engagement Media Team, Médecins Sans Frontières (MSF)

 

 

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