Gaza: Ärzte ohne Grenzen fordert Ende von Zwangsvertreibungen
Ständige Bombardierungen und eine fast vollständige Blockade sowie wiederholte Evakuierungsanordnungen durch das israelische Militär zwingen Hundertausende Menschen im Gazastreifen in immer kleinere Gebiete. Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) warnt, dass der konstante Alarmzustand und die Unvorhersehbarkeit dieser kurzfristigen Evakuierungsanordnungen massive Folgen für die psychische Gesundheit haben. Die israelischen Streitkräfte setzen sie systematisch als Mittel zur Vertreibung ein. Ärzte ohne Grenzen fordert ein Ende dieser Praxis.
«Durch psychologische und physische Kriegsführung zerstören die israelischen Streitkräfte die Lebensgrundlagen der Palästinenser:innen im Gazastreifen. Zwangsvertreibungen sind Teil von ethnischen Säuberungen. Die Menschen können nirgendwo mehr hin», so Claire Manera, Notfallkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Gaza.
Seit Kriegsbeginn wurden Palästinenser:innen immer wieder aufgefordert, Gebiete zu verlassen. Viele mussten mehrfach fliehen. Allein seit dem Bruch der Waffenruhe durch das israelische Militär am 18. März 2025 gab es 31 Evakuierungsanordnungen. Am 19. Mai betraf eine einzige Evakuierungsanordnung in Chan Junis 22 Prozent des gesamten Gazastreifens und mehr als 70 Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen. Am 26. Mai umfasste eine Evakuierungsanordnung 40 Prozent des zentralen und südlichen Gazastreifens.
Die Gebiete, für die Evakuierungsanordnungen gelten und die als militärische Sperrzonen eingestuft wurden, machen mittlerweile rund 80 Prozent des Gazastreifens aus. Es gibt so gut wie keinen Ort mehr, der von Angriffen verschont wurde. Am 26. Mai versorgten Teams von Ärzte ohne Grenzen 17 Patient:innen nach einem Angriff in unmittelbarer Nähe ihres Gesundheitszentrums in Chan Junis im Zentrum des Gazastreifens und damit genau in dem Gebiet, in das die Menschen fliehen sollten. Sie fliehen aus Gebieten, nur um in ihrer neuen, eigentlich sicheren Zuflucht erneut bombardiert zu werden. Seit dem 18. März wurden erneut etwa 600'000 Menschen vertrieben.
«Unsere Kolleg:innen sind verzweifelt», sagt Omar Alsaqqa, Logistiker von Ärzte ohne Grenzen. «Es gibt keine Zelte mehr und keinen Platz, an dem die Menschen sich niederlassen können. Ich weiss nicht, was ich meinen Kolleg:innen antworten soll, wenn sie mich mitten in der Nacht fragen, wohin sie mit ihren Kindern gehen sollen. Wir haben kaum noch Möglichkeiten, um am Leben zu bleiben.»
Hinzukommt, dass die Evakuierungsanordnungen unvorhersehbar und mit zu kurzen Fristen ausgesprochen werden, was Menschen in eine gefährliche Lage bringt. Die Anordnungen kommen in Form von Flugblättern, als Posts in sozialen Medien oder als Telefonanrufe. Den Menschen wird mitgeteilt, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht, sodass ihnen nur wenig Zeit bleibt, Habseligkeiten zu packen und Schutz zu suchen. Dass die Bevölkerung wiederholt gezwungen wird – oftmals mitten in der Nacht, ohne Ziel und unter Lebensgefahr – hat nicht nur physische Folgen, sondern stellt auch eine enorme psychische Belastung dar.
Während die Evakuierungsanordnungen die palästinensische Bevölkerung zwingen, sich auf immer kleiner werdendem Raum zusammenzufinden, greifen die israelischen Streitkräften auch regelmässig an, ohne die Menschen vorab zum Verlassen von Gebieten aufzufordern. So wurden am 9. April mehr als 20 Menschen bei einem Angriff getötet, der auf einen Wohnblock mit sieben Gebäuden in Gaza-Stadt abzielte. Unter den Getöteten waren die Familien von zwei Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen, die zum Zeitpunkt des Angriffs bei der Arbeit waren und später erfuhren, dass ihre Angehörigen unter den Trümmern begraben worden waren.
Ärzte ohne Grenzen fordert die israelischen Streitkräfte auf, die Vertreibung der Bevölkerung und die anhaltenden ethnischen Säuberungen in Gaza unverzüglich einzustellen. Die Organisation fordert auch die Verbündeten der israelischen Regierung auf, ihre Unterstützung für ein solches Vorgehen einzustellen.
Alessia Neuschwander