«Gaza bedeutet Kälte, Hunger und Bomben» – Eindrücke von Nothilfekoordinatorin Caroline Seguin
«Es ist sehr schwierig und gefährlich, in den nördlichen Teil des Gazastreifens zu gelangen. Man muss den Netzarim-Korridor überqueren, der den Gazastreifen in einen nördlichen und südlichen Teil trennt. Ursprünglich war es mal eine einfache Strasse, jetzt erstreckt sich der Korridor über acht Kilometer und wird von den israelischen Streitkräften kontrolliert. Obwohl Nichtregierungsorganisationen die israelischen Streitkräfte darüber informieren, wo sie sich bewegen, kommt es immer wieder zu Zwischenfällen.
Sobald man hinter dem Korridor Gaza-Stadt erreicht, ist es, als wäre man in einer Geisterstadt. Überall Zerstörung. In weiten Teilen lebt niemand mehr, nur ein paar Menschen ziehen herum in dem Versuch, Überbleibsel ihrer zerstörten Häuser zu retten.
Im Umfeld der medizinischen Einrichtung, in der Ärzte ohne Grenzen tätig ist, leben etwa 25‘000 Vertriebene. Die Kämpfe im Norden sind in vollem Gange, die Lage ist apokalyptisch. Es gibt Angriffe mit Bomben, Drohnen und Quadrocoptern. Zwei Kolleg:innen sind noch immer in Beit Lahia und Dschabalia eingeschlossen.
Humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen ist ein riesiges Problem. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten bei der Validierung humanitärer Hilfslieferungen durch COGAT (Coordination of Government Activities in the Territories). All die medizinischen Geräte, Medikamente, Lebensmittel und so weiter, die per Lastwagen transportiert werden, werden von den israelischen Behörden überprüft. Es ist ein bewusst komplexes System voll von physischen und bürokratischen Hindernissen, mit dem Israel den Fluss von Hilfsgütern nach Gaza behindert.
Darüber hinaus gibt es immer öfter Plünderungen. Die wenigen Lastwagen, die es in den Gazastreifen schaffen, werden fast systematisch an den Grenzübergängen Kerem Schalom und Kissoufim geplündert – so auch 98 der 109 Lastwagen des Welternährungsprogramms, die am 16. November nach Gaza gelangten.
Hinzu kommt der Mangel an Treibstoff. Vor Kurzem waren wir gezwungen, unsere Trinkwasserausgabe auf die Hälfte zu reduzieren, weil es einfach nicht genug Treibstoff für die Lastwagen gab. Ärzte ohne Grenzen gehört zu den grössten humanitären Bereitstellern von Wasser im Gazastreifen. Aber der Bedarf ist so enorm, dass wir den Bedürfnissen längst nicht gerecht werden können.
Das UNRWA-Verbot, das das israelische Parlament am 28. Oktober verabschiedet hat, ist verheerend. Wir sind deshalb in grosser Sorge. UNRWA bedeutet für die Bevölkerung im Gazastreifen eine oft lebenswichtige Stütze. Es ist auch der grösste Akteur im Bereich Gesundheitsfürsorge. Darüber hinaus ist UNRWA für fast die gesamte Verteilung von UN-Hilfsgütern zuständig. Wir wissen nicht, wie es ohne UNRWA gehen soll.»
Ärzte ohne Grenzen ist auch im südlichen Teil des Gazastreifens tätig. Mehr als 1,7 Millionen Menschen leben hier auf engstem Raum. Nun hat der Winter begonnen.
«Man stelle sich 1,7 Millionen Menschen vor, dicht aneinandergedrängt. Im Regen, im Schlamm, mit leeren Mägen. Von oben fallen die Bomben. Es ist eine Katastrophe.
Der Winter ist schnell hereingebrochen und die Unterkünfte der Menschen sind nicht auf ihn vorbereitet. Das Jahr über waren sie Sonne, Wind und Regen ausgesetzt. Diese Unterkünfte können weder der Winterkälte etwas entgegensetzen noch den sintflutartigen Regenfällen, die wir in den letzten Wochen erlebt haben. Gebiete wurden teilweise überflutet, manche der Zelte am Meer wurden überschwemmt.
Gleichzeitig gibt es viele Engpässe, insbesondere bei Lebensmitteln, weil israelische Behörden die Lieferung humanitärer Hilfe behindern. Auf den Märkten wird es immer leerer, Bäckereien schliessen, die Preise schiessen in die Höhe. Ein kleines Brot, das vor wenigen Wochen noch für ein paar Cent zu haben war, kostet jetzt fünf Schekel, also etwas mehr als einen Euro.
Gaza bedeutet für die Menschen: Kälte, Hunger und Bomben. Wir brauchen unbedingt einen Waffenstillstand und uneingeschränkte, massive Hilfslieferungen. Wir brauchen ein Ende dieses tausendfachen Leidens, das besonders Frauen und Kinder trifft. Sie sind auch die häufigsten Todesopfer dieses Krieges.»
Johanna Spitz
Djann Jutzeler