Sudan: Ärzte ohne Grenzen baut Hilfe in Tawila weiter aus
Einen Monat nach der Einnahme der Stadt Al-Faschir durch die Rapid Support Forces (RSF) leben die Menschen in der Region unter äusserst prekären Bedingungen. Der Bedarf an medizinischer Versorgung und psychologischer Unterstützung ist enorm. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF) baut die Kapazitäten im nahegelegenen Tawila weiter aus. Patient:innen, die dorthin fliehen konnten, berichten von Massenhinrichtungen, Folter und Entführungen gegen Lösegeld in Al-Faschir und entlang der Fluchtrouten.
Tawila liegt etwa 60 Kilometer westlich von Al-Faschir. Laut Norwegischem Flüchtlingshilfswerk (NRC) konnten rund 10‘000 Menschen nach Tawila fliehen, wo sie unter katastrophalen Bedingungen in überfüllten Vertriebenenlagern leben. In den vergangenen zwei Jahren sind 650‘000 Menschen aus Al-Faschir dorthin gekommen – davon knapp 380‘000 seit April 2025, als die RSF das Lager Samsam angegriffen hatten.
Das Krankenhaus verfügt derzeit über 220 Betten. Ärzte ohne Grenzen baut die Kapazitäten weiter aus, um medizinische Versorgung, einschliesslich chirurgischer Behandlung von Kriegsverletzungen, sicherzustellen. Die Bettenkapazität für Schwerverletzte wurde von 24 auf über 100 erhöht. «Wir führen immer mehr Operationen durch: rund 20 pro Tag im Vergleich zu 7 pro Tag im Vormonat», sagt Mouna Hanebali, Leiterin des medizinischen Teams im Krankenhaus von Tawila. Zahlreiche Patient:innen werden wegen Mangelernährung behandelt. Ihr alarmierender Gesundheitszustand ist ein deutlicher Hinweis auf die Lebensumstände während der Belagerung von Al-Faschir.
In den Vertriebenenlagern verteilt die Hilfsorganisation sauberes Wasser und errichtet Latrinen. Ärzte ohne Grenzen stellt zudem einen dringenden Bedarf an psychosozialer Betreuung fest, die in den kommenden Wochen Priorität haben wird. «Die Lebensbedingungen in den Lagern rund um Tawila sind extrem prekär», sagt Myriam Laaroussi, Notfallkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Darfur. «Menschen kommen völlig erschöpft an einen Ort, an dem es keine ausreichenden Ressourcen gibt, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen: Sie schlafen in notdürftigen Unterkünften aus Holz und Stofffetzen, und die Nahrungsmittelhilfe bietet nur eine Mahlzeit am Tag.» Bei einer Erhebung in den Camps Daba Naira und Tawila Umda stellte Ärzte ohne Grenzen ausserdem fest, dass pro Person nur durchschnittlich 1,5 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung stehen – weit unter dem humanitären Mindeststandard von 15 Litern.
Laut Schätzungen der UNO waren Ende August noch etwa 260‘000 Menschen in Al-Faschir. Nur einem kleinen Teil ist es gelungen, die Stadt zu verlassen. «Die Menschen, die die extreme Gewalt überlebt haben, befinden sich weiterhin in höchster Gefahr in und um Al-Faschir. Humanitärer Zugang ist blockiert, die Überlebenden sind eingeschlossen, und direkte Informationen über die aktuelle Situation innerhalb und rund um die Stadt sind äusserst begrenzt», so Myriam Laaroussi. Aussagen von Überlebenden und externe Informationen – etwa die Satellitenanalysen der Yale School of Public Health – deuten auf eine katastrophale Lage hin: Ein grosser Teil der Zivilbevölkerung, die vor dem 26. Oktober noch dort lebte, wurde getötet oder wird festgehalten, ist eingeschlossen, erhält keine lebenswichtige Hilfe und kann auch nicht an sichere Orte fliehen.
Ärzte ohne Grenzen fordert die RSF und ihre Verbündeten dringend auf, schutzsuchenden Kranken, Verletzten und allen Zivilist:innen sichere und freie Passagen zu ermöglichen und humanitären Hilfsorganisationen Zugang zu Al-Faschir und anderen Orten zu gewähren, an denen sich Überlebende aufhalten.
Berichte von Überlebenden
Überlebende, die Tawila erreichen, berichten von extremer Gewalt und Massenhinrichtungen in Al-Faschir und entlang der Fluchtrouten. Auf ihrer Flucht sahen sie zahlreiche Leichen und erlebten Folter, Entführungen gegen Lösegeld, sexualisierte Gewalt, Demütigungen und Raub sämtlicher Habseligkeiten. Viele berichten auch von Massenfestnahmen, bei denen Männer – vor allem junge – festgehalten und von Frauen und Kindern getrennt wurden.
Am Ende einer langen Flucht nichts als Verzweiflung
Nachdem A.M.* den Tod seiner Frau und seiner Tochter bei Bombenangriffen auf Al-Faschir miterlebt hatte, brach er am 27. Oktober zu einer beschwerlichen viertägigen Flucht zu Fuss nach Tawila, auf. Es ware vier qualvolle Tage, in denen er und seine verbliebene Familie Folter, Schlägen und Raub ausgesetzt waren. Unterwegs, im Dorf Garni, musste er seine Nichte beerdigen, ein junges Mädchen, das vor Erschöpfung und Hunger starb. «Sie hat die langen Gehstrecken nicht ausgehalten. Die Reise war sehr hart.», sagt er. Dennoch ging er weiter nach Tawila – gemeinsam mit seinen überlebenden Kindern, seinem Bruder und sogar Waisen, denen er unterwegs begegnete. Doch als sie die Stadt schliesslich erreichten, waren sie nur verzweifelt: es gab zu wenig Wasser, zu wenig Nahrung, keinen ausreichenden Schutz, keine Latrinen.
Ehemann auf der Suche nach Nahrung erschossen
I.O.*, etwa 30 Jahre alt, sitzt mit ihren beiden Kindern unter einem notdürftigen Planenzelt. Sie waren drei Tage zu Fuss unterwegs, bis sie ein Vertriebenenlager in Tawila erreichten. Ihr Mann wurde in Al-Faschir von Schüssen getroffen, als er auf der Suche nach Nahrung unterwegs war. Als sie schliesslich am 25. Oktober mit ihren Kindern floh, fanden sie seinen leblosen Körper auf der Strasse. «Alles, was wir besassen, wurde gestohlen. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist dieses Kleidungsstück, das wir auf den Boden legen, um darauf zu schlafen», erzählt sie. «Ich brauche Kleidung für meine Kinder, sie haben nur ein Paar Schuhe, das wir untereinander weitergeben, wenn jemand auf die Toilette muss. Uns fehlen noch viele grundlegende Dinge.»
Mit einem zerschossenen Bein auf der Flucht
I.A.*, früher Wachmann an einer Universität in Al-Faschir, wurde einen Tag vor dem Fall der Stadt mitten in einem Schusswechsel am Bein getroffen; sein Schienbein war an mehreren Stellen zertrümmert. «Die Wunde hat geblutet, und mein Bruder hat einen Druckverband gemacht. Dann hat er mich auf einen Eselskarren gehoben und hierhergebracht. Kannst du dir vorstellen, wie weh das getan hat?», sagt er. Drei Tage waren sie unterwegs. Trotz aller Bemühungen musste ein Teil seines Beins amputiert werden, als sie endlich Tawila erreichten.
Zehn Tage festgehalten und gefoltert
F.I.*, ein sichtlich erschöpfter 50-Jähriger, wurde zehn Tage lang festgehalten, geschlagen und gezwungen, unvorstellbare Gewalt zu ertragen. Ihm wurde sogar Strick um den Hals gelegt. Seine Entführer forderten 10 Millionen sudanesische Pfund (4.000 USD) für seine Freilassung. «Sie haben sich betrunken und uns in die Wüste gebracht. Sie zwangen uns, in Büschen zu liegen, schlugen uns und erniedrigten uns schrecklich. Sie sagten, sie würden uns töten und schossen mit viel scharfer Munition auf uns», erzählt er. Schliesslich liessen sie ihn für 500‘000 Pfund (200 USD) frei, weil seine Wunden stark infiziert waren. Laut Aussagen von Patient:innen sind weiterhin viele Zivilist:innen in Garni und anderen Orten um Al-Faschir in Haft oder werden von der RSF und ihren Verbündeten daran gehindert, sichere Orte wie Tawila zu erreichen.
*Namen wurden geändert, um die Identität der Betroffenen zu schützen.
Alessia Neuschwander