Ukraine: Der medizinische Bedarf ist immens
Kiew/Zürich, 21. Februar 2025. Drei Jahre nach der Eskalation des Krieges in der Ukraine ist der medizinische und humanitäre Bedarf im Land enorm. Viele Menschen haben ihr Leben oder ihr Zuhause verloren, unzählige wurden schwer verletzt. Durch die häufigen Angriffe auf Spitäler, Krankenautos und medizinische Einrichtungen hat sich die Belastung der medizinischen Versorgung in der Ukraine weiter erhöht.
Seit 2022 verzeichnet Ärzte ohne Grenzen eine Zunahme von Patient:innen mit Kriegsverletzungen, die eine Rehabilitation benötigen, etwa Physiotherapie nach Amputationen. Auch die Zahl der Patient:innen, die wegen posttraumatischer Belastungsstörungen behandelt werden müssen, ist gestiegen. In den frontnahen Gebieten schränkt der andauernde Beschuss den Zugang der vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen - u.a. ältere Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten - zu medizinischer Versorgung ein.
«Die Grausamkeit dieses Krieges hat nicht nachgelassen, und der medizinisch-humanitäre Bedarf ist nur noch umfassender geworden. Selbst wenn der Krieg morgen enden würde, bräuchten Hunderttausende von Menschen jahrelang eine Physiotherapie oder Beratung für posttraumatische Belastungsstörungen. Die Sicherstellung dieser Versorgung erfordert ein kontinuierliches humanitäres Engagement», sagt Thomas Marchese, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine.
Ärzte ohne Grenzen betreibt ein Frührehabilitationsprojekt mit Zentren in Tscherkassy und Odessa, wo Menschen mit Kriegsverletzungen eine frühzeitige postoperative Physiotherapie, psychologische Unterstützung und Pflege erhalten. In den vergangenen zwei Jahren behandelten unsere Teams insgesamt 755 Patient:innen. Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Patient:innen, die eine postoperative Versorgung nach einer Beinamputation benötigten, um zehn Prozent. 2024 wurde bei der Hälfte aller Patient:innen des Projekts entweder eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Depression diagnostiziert.
Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung in der Ukraine ist gross. Zusätzlich zu den Zentren in Tscherkassy und Odessa hat Ärzte ohne Grenzen ein Projekt zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen in Winnyzja eingerichtet.
Das ukrainische Gesundheitssystem steht unter enormem Druck, da es den Spagat zwischen Notfallmassnahmen und der langfristigen Versorgung der vom Krieg betroffenen Patient:innen bewältigen muss. Seit drei Jahren sind Drohnen- und Raketenangriffe an der Tagesordnung. Mitunter treffen sie Städte, die mehr als tausend Kilometer von der Frontlinie entfernt sind. Viele medizinische Einrichtungen mussten sich darauf einstellen, Patient:innen in Bunkern oder Kellern zu behandeln. Auch der Strom fällt aufgrund von Angriffen auf die Energieinfrastruktur häufig aus.
Um hier Abhilfe zu schaffen, verlegt Ärzte ohne Grenzen mittels Krankentransporten Patient:innen aus überlasteten Spitälern in der Nähe der Frontlinie in medizinische Einrichtungen mit grösseren Kapazitäten in der Zentral- und Westukraine. In den vergangenen drei Jahren haben Ambulanzen von Ärzte ohne Grenzen mehr als 25'000 Patient:innen transportiert. Von ihnen hatten mehr als die Hälfte Kriegsverletzungen.
2024 verzeichneten die mobilen Klinik- und Ambulanzteams von Ärzte ohne Grenzen auch einen deutlichen Anstieg der Überweisungen von Patient:innen mit chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Problemen, Diabetes und Krebs. 2023 hatten diese Fälle 24 Prozent aller Überweisungen ausgemacht, 2024 waren es bereits 33 Prozent.
«Für einige der am stärksten gefährdeten Menschen ist eine Umsiedlung jedoch keine Option. Nicht jeder ist in der Lage, sein Haus zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Die anhaltenden Kämpfe bedeuten, dass diese Menschen häufig von der medizinischen Versorgung abgeschnitten sind. Auch können die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen aufgrund des anhaltenden Beschusses manchmal nicht in bestimmte Gebiete fahren», berichtet Marchese.
Während der Krieg in der Ukraine in sein viertes Jahr geht, erleben die Teams von Ärzte ohne Grenzen, wie dieser die medizinische Versorgung immer mehr beeinträchtigt.Trotz des starken ukrainischen Gesundheitssystems ist der Bedarf an nachhaltiger medizinischer Versorgung und psychosozialer Betreuung grösser denn je. Hunderttausende von Menschen werden noch lange nach dem letzten Angriff eine kontinuierliche Pflege, Rehabilitation und Trauma-Therapie benötigen.
Ärzte ohne Grenzen setzt die Arbeit in der Ukraine fort, sowohl in der Nähe der Frontlinien als auch in anderen Landesteilen. Trotz des Einsatzes der Organisation benötigen die Menschen in der Ukraine dringend weitere Unterstützung.
Yvonne Eckert
Djann Jutzeler