Ukraine: Medizinische Hilfsgüter von Ärzte ohne Grenzen erreichen Kiew
Ein Transport mit medizinischen Hilfsgütern von Ärzte ohne Grenzen hat am Sonntagnachmittag die ukrainische Hauptstadt Kiew erreicht. Die Hilfslieferung war am Vortag im Westen der Ukraine angekommen und wurde dann per Zug in die Hauptstadt gebracht.
“Es war dringend notwendig, dies schnell zu tun”, erklärt Christopher Stokes, Nothilfekoordinator von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine. “Wir befinden uns hier in einem Wettlauf mit der Zeit, denn wir wissen nicht, wie lange die Verbindung nach Kiew per Zug noch möglich sein wird”, so Stokes. “Wir haben uns für den Weitertransport per Zug entschieden, weil das schnell geht und eine grosse Menge an medizinischem Material auf einmal nach Kiew gebracht werden kann.”
Am Samstag, einen Tag vor dem Eintreffen in Kiew, waren die Hilfsgüter im Lager von Ärzte ohne Grenzen in Lwiw angekommen und anschliessend mit Unterstützung der ukrainischen Eisenbahngesellschaft auf die Schiene gebracht worden.
Die Hilfsgüter sind insbesondere für die Versorgung von Kriegsverletzten vorgesehen. Sie umfassen chirurgisches Material, Produkte zur Versorgung von Verletzungen sowie Medikamente. Die Hilfsgüterlieferung soll dabei helfen, den Grundbedarf von Intensivstationen, Notaufnahmen und Operationssälen in ukrainischen Spitälern zu decken. Insgesamt umfasste der Transport nach Kiew Hilfsgüter mit einem Volumen von 40 Kubikmetern.
Die Hilfsgüter werden nun an Spitälern in Kiew und in anderen Städten weiter östlich im Land verteilt, wo die Zahl der Verwundeten steigt und die Vorräte an medizinischen Produkten schnell zur Neige gehen. Viele Spitäler und Gesundheitseinrichtungen in den stärker vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine benötigen immer dringender Unterstützung mit medizinischem Material. Ärzte ohne Grenzen sucht weiterhin nach Wegen und Möglichkeiten, die Dinge, die gebraucht werden, zur Verfügung zu stellen.
In den kommenden Tagen werden weitere Hilfslieferungen von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine ankommen. Erste erfahrene medizinische Teams von Ärzte ohne Grenzen sind von Moldawien, Ungarn und Polen aus in der Ukraine eingetroffen.
“Die Entsendung von Chirurgenteams für die praktische medizinische Arbeit wird eine Herausforderung sein, aber wir prüfen aktiv, welche konkreten Möglichkeiten wir haben”, sagt Stokes. “Auch die Verteilung von Hilfsgütern an Spitälern wird schwierig werden. Es hat einige Zeit gedauert, aber nun stocken wir unsere Kapazitäten schnell auf, um so schnell wie möglich mehr medizinische Hilfe zu leisten.”
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Untenstehend finden Sie zudem ein Voice-Record zum Download. Dabei handelt es sich um einen Mitschnitt eines Gespräches unserer Notfallkoordination in Lwiw mit einem Mitarbeitenden in Mariupol.
Die Stadt Mariupol ist derzeit besonders stark von den Kampfhandlungen in der Ukraine betroffen. Mehrere Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen befinden sich mit ihren Familien in der Stadt. Ein Team-Mitglied aus Mariupol hat uns berichtet, dass Menschen Schnee und Regenwasser sammeln, um etwas Wasser zu haben. Mehrere Lebensmittelgeschäfte seien durch Raketen zerstört worden. Was übrig blieb, haben Menschen in ihrer Not mitgenommen. Es gibt immer noch keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung und keine Handy-Verbindung. Apotheken haben keine Medikamente mehr.
Christine Jamet, Leiterin der Einsätze von Ärzte ohne Grenzen Schweiz, fordert sichere Fluchtwege, damit die Zivilbevölkerung einschliesslich der Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen und ihre Familien aus Mariupol fliehen können. Die Menschen sitzen derzeit in Mariupol in der Falle, wo der Krieg so plötzlich einsetzte, dass viele nicht einmal fliehen konnten.
„Zivilistinnen und Zivilisten dürfen nicht in einem Kriegsgebiet in einer Falle sitzen“, sagt Jamet. „Menschen, die sich in Sicherheit bringen wollen, müssen dies tun können, ohne Angst vor Gewalt.“
Vorbereitung und Ausweitung der Aktivitäten: Hilfslieferungen und Teams erreichen die Ukraine
Bereits bestehende Projekte in der Ukraine wurden auf den Notfallmodus umgestellt. Erfahrene Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen erreichen die Grenzregionen sowie die Ukraine selbst, und erste Lieferungen mit Medikamenten und medizinischem Material treffen ein.
Es ist schwierig, einen genauen Überblick sowie verlässliche Informationen über die medizinischen Bedürfnisse der Menschen in der Ukraine zu bekommen. Die anhaltenden Kämpfe machen Bewegungen innerhalb des Landes schwierig und gefährlich, zum Teil sogar unmöglich. Kommunikationsnetze sind nicht immer verfügbar, und Informationen aus den Medien und sozialen Medien müssen sorgfältig geprüft werden, da viele Falschinformationen zirkulieren.
Auswirkungen der Kämpfe auf die Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine
Ärzte ohne Grenzen war seit 2014 im Osten der Ukraine tätig, wo die Lage für die Menschen aufgrund der Kämpfe derzeit besonders hart ist. Medizinische Teams stehen in Kontakt mit einigen Spitälern dort und hören, dass ihnen langsam das Material ausgeht.
Ärzte ohne Grenzen ist besorgt, dass mitunter ältere Menschen im Osten der Ukraine nicht ausreichend Zugang zu medizinischer Versorgung haben, die sie dringend brauchen. Die ohnehin schlechte Infrastruktur in der Region wird sich angesichts der aktuellen Kämpfe vermutlich noch verschlechtern, was den Zugang der Menschen zu Gesundheitsversorgung erschwert.
Hilfe für Flüchtende in Nachbarländern
In den vergangenen Tagen sind Hunderttausende Menschen aus der Ukraine in Nachbarländer geflohen oder suchen innerhalb der Ukraine Schutz. Teams von Ärzte ohne Grenzen sind inzwischen in Polen, Ungarn, der Slowakei, Rumänien, der Republik Moldau, Belarus und Russland aktiv und evaluieren, ob die Ankommenden humanitäre Hilfe brauchen.
Polen
An der polnisch-ukrainischen Grenze haben Teams von Ärzte ohne Grenzen Projekte auf beiden Seiten der Grenze gestartet. Sie sehen dort Menschen zu Fuss oder mit dem Auto die Grenze überqueren. Viele sind extrem müde und erschöpft und haben bis zu drei Tage bei Wintertemperaturen in ihren Autos warten müssen, um die Grenze zu überqueren, darunter auch Kinder und Babys.
Die Teams berichten, dass lokale Behörden, Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen und Freiwillige Männern, Frauen und Kindern beim Grenzübertritt helfen und Tee, Suppe und Decken bereitgestellt haben.
Die Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen in Polen sind bislang noch begrenzt. Ein Teil der Mitarbeitenden der Organisation wird sehr wahrscheinlich von Polen arbeiten, indem sie unsere Teams in der Ukraine mit Medikamenten und medizinischer Ausrüstung versorgen.
Ungarn
Ein Team in Ungarn ermittelt die Bedürfnisse der Menschen, die die Grenze der Ukraine nach Ungarn überqueren, insbesondere die der vorerkrankten oder besonders gefährdeten Menschen und Gruppen.
Republik Moldau
Ärzte ohne Grenzen hat Teams in den Südosten der Republik Moldau entsandt, um die Situation von flüchtenden Menschen an den Grenzübergängen zu beurteilen. Dabei prüfen sie insbesondere, ob chronisch oder psychisch Erkrankte Unterstützung benötigen. Zudem ist ein Team aus der Republik Moldau in die Ukraine gereist, um zu prüfen, ob Städte wie Odessa, Mykolajiw oder Cherson von dort aus erreichbar sind.
Slowakei
Ein Team von Ärzte ohne Grenzen ist vergangene Woche im Land eingetroffen. Es hat sich bisher mit Verwaltungsbeamten und Vertreter:innen lokaler NGOs getroffen und einige Grenzgebiete besucht, um ungedeckten medizinischen und humanitären Bedarf zu ermitteln.
Russland
In den Regionen Archangelsk und Wladimir betreibt Ärzte ohne Grenzen seit Längerem in Zusammenarbeit mit den örtlichen Gesundheitsbehörden Projekte für Menschen, die an resistenten Formen der Tuberkulose erkrankt sind.
Im Süden Russlands evaluieren Teams der Organisation derzeit, ob dort weiterer Bedarf an medizinischer oder humanitärer Hilfe entstanden ist. Sie haben einige Spenden wie Lebensmittel, Hygienesets und Medikamente zur Unterstützung von Geflüchteten bereitgestellt.
Belarus
In Belarus laufen die regulären Programme weiter. Wir unterstützen das nationale Tuberkuloseprogramm sowie die Behandlung von Hepatitis C in Gefängnissen. Im Jahr 2021 haben Teams in Belarus Menschen unterstützt, die auf ihrem Weg in die EU in der Grenzregion von Belarus gestrandet waren. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Belarus prüfen derzeit, ob zusätzlicher Bedarf an medizinisch-humanitärer Unterstützung besteht.