Verlässliche europäische Regelungen für die Ausschiffung von Geflüchteten schaffen

"Die Schweiz liegt im Herzen von Europa. Sie ist zwar nicht Mitglied der Europäischen Union, in welcher die Tagung des EU-Rats für Justiz und Inneres bevorsteht, hat aber das Abkommen von Dublin mitunterzeichnet. Dieses bestimmt, in welchem europäischen Land ein Asylantrag behandelt werden muss. Seit Januar 2018 sind mindestens 2‘500 Frauen, Kinder und Männer im Mittelmeer ertrunken. Menschen, die zwangsweise nach Libyen zurückgeschickt werden, werden mit grosser Wahrscheinlichkeit willkürlich inhaftiert, misshandelt, gefoltert oder in die Sklaverei verkauft. Dies ist inakzeptabel und bedarf einer gemeinsamen europäischen Lösung. Auch die Schweiz ist gefordert, sich in dieser globalen Herausforderung solidarisch zu zeigen." Ralf De Coulon, Deputy Director General von MSF Schweiz

 

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Offener Brief an EU-Minister/innen

Verlässliche europäische Regelungen für die Ausschiffung von Geflüchteten schaffen

Sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister

Wir, die unterzeichnenden Organisationen, Netzwerke und Plattformen, sind in grosser Sorge angesichts der aktuellen Krise im Mittelmeer, und bitten Sie dringend, tätig zu werden. Seit Januar 2018 sind mindestens 2‘500 Frauen, Kinder und Männer im Mittelmeer ertrunken. Währenddessen haben die europäischen Staats- und Regierungschefs vor dieser Tragödie ihre Augen verschlossen und haben sich auf diese Weise daran mitschuldig gemacht.

Seit mehr als sechs Monaten versuchen EU-Regierungen erfolglos sich auf ein Verfahren zu einigen, das es den Überlebenden ermöglichen würde, sicher an Land zu gehen. Jedes Mal, wenn ein Schiff gerade gerettete Menschen in einen europäischen Hafen bringen will, führen die Regierungen der EU quälende und langwierige Debatten darüber, wo das Schiff anlegen darf und welche Länder die Überlebenden aufnehmen und ihre Asylanträge bearbeiten. Frauen, Männer und Kinder, die auf ihrer Reise häufig körperliche und seelische Verletzungen mit sich herumtragen, bleiben zuweilen fast einen Monat lang auf See gefangen. Die EU-Marinemission „SOPHIA“ im Mittelmeer läuft Gefahr, vollständig eingestellt zu werden, da sich die europäischen Regierungen nicht darauf einigen können, wo sie gerettete Menschen von Bord gehen lassen.

Gleichzeitig üben europäische Regierungen unangemessenen Druck auf Nichtregierungs-organisationen aus, die im Mittelmeerraum lebensrettende Such- und Rettungsaktionen durchführen. Anstatt diese Aktivitäten zu unterstützen und damit Leben zu retten, haben einige EU-Mitgliedstaaten die Operationen dieser Organisationen zusätzlich erschwert, haben sie mit unbegründete Vorwürfen eingedeckt und verhindert, dass Such- und Rettungsboote auslaufen. Während im vergangenen Jahr fünf Organisationen Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchführen, kann dies heute nur noch eine tun.

Die Massnahmen der europäischen Regierungen haben es den in der Seerettung aktiven Organisationen zunehmend erschwert, ihre lebensrettende Arbeit fortzusetzen. Und sie haben auch andere Schiffe davon abgehalten, ihre Verpflichtung zu erfüllen, Menschen in Not zu retten und sie an den nächsten sicheren Ort zu bringen. Das Mittelmeer ist dadurch eines der tödlichsten Meere der Welt geworden. Im Januar rettete ein Helikopter der Marine drei Personen, die berichteten, dass ihr Boot Libyen mit 120 Frauen, Kindern und Männern an Bord verlassen hatte. Alle anderen waren ertrunken. Personen, die zwangsweise nach Libyen zurückgeschickt werden, werden mit grosser Wahrscheinlichkeit willkürlich inhaftiert, misshandelt, gefoltert oder in die Sklaverei verkauft. Laut des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden 2018 mehr als 15‘000 Menschen nach Libyen zurückgebracht.

Nach internationalem Recht sollten auf See gerettete Personen an den nächstgelegenen sicheren Ort gebracht werden, wo sie mit Respekt behandelt werden und Schutz erhalten. Europa hat sich dazu verpflichtet, Menschen im Mittelmeer zu retten und die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme unter den Staaten aufzuteilen. Das Recht, Asyl zu suchen, und der Grundsatz der Nichtzurückweisung sind in den Verträgen der Europäischen Union verankert. Dort wird auch erklärt, dass die Union auf der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte gegründet ist. Dies sind die Werte, an die wir alle glauben – und das Recht, an das wir gebunden sind. Sie sollten daher ungeachtet politischer Meinungsverschiedenheiten aufrechterhalten werden.

Wir bitten Sie bei der bevorstehenden informellen Tagung des EU-Rats für Justiz und Inneres eine zügige Ausschiffungsregelung zu vereinbaren. Diese soll ermöglichen Leben zu retten und die Grundrechte der Menschen, einschliesslich ihres Rechts Asyl zu suchen, respektieren. Im Einzelnen fordern wir vom Rat:

1. Unterstützung von Such- und Rettungsaktionen: Die Länder sollten allen Schiffen, die Such- und Rettungsaktionen durchführen, erlauben, in ihren Häfen anzulegen, gerettete Personen von Bord gehen zu lassen und zügig wieder abzulegen. Der Versuch, lebensrettende Operationen von Nichtregierungsorganisationen und Handelsschiffen zu verhindern, gefährdet Leben und untergräbt das Vertrauen der Bürger in ihre Regierungen eine Lösung zu finden.

2. Verabschiedung zügiger und verlässlicher Ausschiffungsregelungen: Bis eine Reform des Dublin-Systems einschliesslich eines ständigen Mechanismus zur gemeinsamen Verantwortungsteilung verabschiedet wird, sollten Vorkehrungen getroffen werden, um eine zügige Ausschiffung und Verteilung der geretteten Personen auf die Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. Nichtregierungsorganisatione haben konkrete Vorschläge für an die Ausschiffung anschliessende Umverteilungsverfahren gemacht. Angesichts der dringenden Notwendigkeit von Massnahmen zur Aufteilung der gemeinsamen Verantwortung und der Hindernisse für eine EU-weite Lösung, sollten unverzüglich Vereinbarungen getroffen werden. Dies würde neue Verhandlungen für jedes neu eintreffende Schiff verhindern.  Keine Vereinbarung sollte andere Mitgliedstaaten von ihren rechtlichen Verpflichtungen aus EU-Recht, dem internationalen Flüchtlingsrecht oder dem Seerecht entbinden.

3. Ende der Rückführungen nach Libyen: Libyen ist ein Land im Kriegszustand in dem Flüchtlinge und Migranten oft unter furchtbaren, menschenrechtsverletzenden Bedingungen festgehalten werden. Frauen, Kinder und Männer, die von der durch die EU unterstützten libyschen Küstenwache oder auf Anweisung der Maritimen Rettungs-und Koordinierungszentren nach Libyen zurückgeschickt werden, sehen sich unausweichlich einer willkürlichen Inhaftierung und der Gefahr von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Massgebliche Quellen, darunter einige der Unterzeichnerorganisationen, haben konkrete Fälle dokumentiert, in denen aufgegriffene oder gerettete Personen bei ihrer Rückkehr nach Libyen gefoltert und misshandelt wurden. Die UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR hat alle Staaten aufgefordert, Angehörige von Drittstaaten wegen der ihnen dort drohenden Gefahren nicht nach Libyen zurückzuschicken. Die europäischen Regierungen sollten klare Prüfkriterien festlegen, einschliesslich der Beendigung willkürlicher Inhaftierungen, und dazu bereit sein, die Zusammenarbeit und Unterstützung der libyschen Küstenwache auszusetzen, wenn diese nicht erfüllt werden.

Wir fordern Sie angesichts der sich zunehmend verschärfenden Situation dringend dazu auf, umgehend geeignete Massnahmen zu ergreifen.

Mit freundlichen Grüssen

 

Unterzeichnende Organisationen/Netzwerke:

ACT Alliance EU

Action Against Hunger

African Media Association Malta

Amnesty the Netherlands

AOI

Arcs

Blue Door English

Caritas Europa

CEFA Onlus

Churches´ Commission for Migrants in Europe (CCME)

CIRÉ

COMI

Concord Italia

Danish Refugee Council

Dutch Refugee Council

European Evangelical Alliance

Focsiv

Gcap Italia

Human Rights Watch

ICMC

IPSIA-ACLI

Kopin

La Coordinadora

Legambiente

Malta Microfinance

Marche Solidali

Médecins Sans Frontières (MSF)

Missing Children Europe

Mixed Migration Centre

Oxfam (EU office)

Oxfam Deutschland

Oxfam Novib

Pax for Peace

SKOP

Sonia per un mondo nuovo e giusto

SOS Mediterranee

The European Council on Refugees and Exiles

The Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (PICUM)

Über Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)

MSF ist eine unabhängige medizinische Hilfsorganisation. MSF hilft Menschen in Not, Opfern von Naturkatastrophen sowie von bewaffneten Konflikten - ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, religiösen oder politischen Überzeugung oder ihres Geschlechts.


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